Die Krise der COVID-19-Pandemie führte weltweit in kürzester Zeit zu erheblichen Veränderungen des Alltags. Jugendliche und junge Erwachsene trifft es mit dem erneuten Lockdown besonders hart.
H.E.: Die Pandemiesituation führt zu massiven Einschränkungen, die Krisensituationen auslösen können. Kinder und Jugendliche durchlaufen entwicklungspsychologisch betrachtet eine Autonomie-Entwicklung und Ablösungsprozesse, die durch Homeschooling und pandemiebezogene Ausgangsbeschränkungen massiv beeinträchtigt werden. Lockdown und Social Distancing stören die definierten Entwicklungsziele.
Eigentlich könnte man vermuten, dass für viele Jugendliche mit dem erneuten Lock-Down ein Traum in Erfüllung gegangen ist. Aber tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Jugendliche gerade jetzt oft unglücklich sind. Woran liegt das?
H.E.: Jugendliche sind durch Homeschooling ihrer Tagesstruktur beraubt, die sie sich jahrelang ab dem Besuch des Kindergartens mühsam erarbeitet haben. Sie müssen in dieser Lebensphase versuchen ihre eigene Identität in den Strukturen der Gesellschaft, die durch Arbeitsleben und Beziehungen geprägt ist, zu finden. Durch den Lockdown sind beide Lernfelder, also sowohl Beziehung als auch Schule/Ausbildung, stark verändert.
Auch langes Schlafen kann speziell bei Jugendlichen längerfristig zu einer Tag-Nacht-Umkehr führen. Wenn Jugendliche oft bis späten Nachmittag schlafen bearbeiten sie ihre Schulaufgaben erst nachts. Das fördert den sozialen Rückzug, weil sie dann oft erst wach werden, wenn andere schon wieder schlafen gehen. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist sehr wichtig für unser psychisches Wohlbefinden.
Läuft ein "Durchschnittsjugendlicher" Gefahr, ernsthaft langfristig unter der aktuellen Situation zu leiden?
H.E.: Durch das Wegfallen wichtiger sozialer Kontakte, über die Schule oder das nächtliche Ausgehen und Leistungssituationen fällt auch die tägliche Auseinandersetzung mit sozialen Situationen weg. Das führt automatisch zu einer Regression. Weil man die Trainingsmöglichkeiten verliert, kommt es zu einem Rückschritt in der Entwicklung. Es können dann vermehrt Ängste und Probleme bei alltäglichen Aufgaben wie Schularbeiten oder ähnlichem auftreten.
Fällt es jungen Erwachsenen, die mit Digitalen Medien aufgewachsen sind, leichter, auf die Veränderungen der Kontaktpflege zu reagieren?
H.E.: Auch Digital Natives machen einen Unterschied zwischen Partyfotos auf Instagram und einer richtigen Party. Sie entwickeln sich unter den Regeln des Social Distancing zu Gleichaltrigen und leiden unter dem Verlust von echten Begegnungen. Wir lernen generell sehr viel über echte (face-to-face) Beziehungen im Einzel und Gruppenkontakt – wir können so unsere eigene Identität begreifen, unsere Grenzen kennenlernen aber auch Grenzen und Bedürfnisse anderer Personen respektieren. Das ist über soziale Medien sicherlich nicht möglich.
O.S.: Wie kann man als Eltern, Erziehungsberechtigte, Familie und Freunde dabei helfen, dass die Jugendlichen psychisch gut diese Krise kommen?
H.E.: Ich glaube, es wäre wichtig die krisenhafte Ausnahmesituation öfters zu besprechen und darauf hinzuweisen, dass diese Pandemiesituation eine große Herausforderung für uns alle ist. Wir haben uns in Österreich gesellschaftlich schon lange nicht mehr mit dauerhaften Krisensituationen auseinandersetzen müssen. Vielleicht fühlt sich der eine oder andere an Erzählungen von Großeltern oder Urgroßeltern über schwierige Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert. Vielleicht kann man hier in der Familiengeschichte „kramen“ und überlegen, wie es den Vorfahren eigentlich ergangen ist. Vielleicht kann man lernen, deren Geschichten über viele Entbehrungen einzuordnen und Hoffnung schöpfen, dass auch wir bessere Lösungen finden werden – auch wenn wir momentan alle limitiert sind. Das hilft uns, uns in schwierigen Situationen mitander verbunden zu fühlen.
Vielen Dank für das Gespräch!